Loslassen
Ich war
etwa fünf Jahre alt und ging mit meiner Tante zur Kirmes.
Irgendwann sagte sie: Schau mal, hier sind zwei Luftballons, die
darst du festhalten. Die mußt Du ganz tüchtig festhalten
und keinen loslassen. Meine Tante war gerade mit ihrer Handtasche
beschäftigt, als ein großer Junge kam und brüllte –
so kam es mir jedenfalls vor: „Hey, das sind meine, gib die
sofort her.“ Er entriss sie mir und war in der Menge
verschwunden. Als meine Tante sah, dass ich keine Luftballons mehr
hatte, schimpfe sie: was bist du für ein undankbarer,
ungezogener Junge, kannst nicht aufpassen und verlierst schon nach
drei Minuten die Luftballons,die du festhalten durftest. Mein „Ja,
aber...“ ging unter. „Mit dir kann man einfach nicht auf
die Kirmes gehen, wir gehen jetzt nach Hause und ich will kein Wort
von dir hören. Hast Du mich verstanden. - Ich konnte nur noch
nicken.
Loslassen
war verboten. Das betraf nicht nur Luftballons und andere
Gegenstände, sondern auch jegliche Art von Körpergeräuschen.
In der
Schule durfte man sich, wenn überhaupt, in der Pause die Nase
putzen. Während des Unterricht war das ruhestörender Lärm
und wurde ins Klassenbuch eingetragen.
Die
Aufforderung meines Fahrlehrers: „Nun lassen sie doch mal die
Kupplung los“, war die erste dieser Art, an die ich mich
erinnern kann.
Dabei habe
ich in den ersten zwanzig Jahren meines Lebens schon einige Menschen
loslassen müssen, Verwandte, Freunde und Bekannte. Sie starben
an Altersschwäche, durch Kranheit, Unfall oder Suizid. Nie
konnte oder durfte ich an einer Beerdigung teilnehmen. Selbst an mich
adressierte Todesanzeigen bekam ich erst zu lesen, wenn die
Beerdigung längst vorbei war.
Loslassen
habe ich während meiner Bundeswehrzeit gelernt.
Nicht mehr
selbstverständlich das Bett zu Hause. Nicht mehr
einkaufen
und Kohlen holen dürfen, nicht mehr die Treppe bohnern dürfen
– und ich hielt das sehr gut aus. Losgelassen aber auch
Freundschaften und Bekanntschaften, die nie wieder zusammen fanden;
vor allem, weil ich in den 18 Monaten anders geworden war. Ich hatte
lernen müssen, Entscheidungen zu treffen ohne vorher um
Erlaubnis zu fragen.
Wehe, wenn
sie losgelassen. Ich war viel zu brav erzogen, um irgend etwas zu
tun, dessen ich mich hätte schämen müssen.
Aber ich
hatte Lunte gerochen, hatte eine Ahnung von dem, was möglich
war, hatte eine Sehnsucht nach einem anderen Leben.
All die
mehr oder weniger engen Bekanntschaften während meiner
Bundeswehrzeit habe ich losgelassen, zu keinem habe ich Kontakt
aufnehmen können. Entweder waren sie versetzt worden oder hatten
mir ein falsche Adresse angegeben. Trotz tausen heiliger Eide, wie es
so schön hieß hat keiner den Kontakt zu mir gesucht.
Loslassen war auf einmal zu einer Selbstverständlichkeit
geworden, die so alltäglich war, das kein Wort darüber
verloren wurde.
Unsicher,
ohne reifes Selbstbewußtsein, nur darauf bedacht,
nicht
aufzufallen und zu tun, was von mir erwartet wurde, schwanke ich
ständig zwischen dem Gefühl, alles loslassen zu müssen
und nichts loslassen zu können. „Wollen täte ich
schon können, aber dürfen habe ich mich nicht getraut.“
Viele
Jahre lang hatte ich Angst, dass nichts von mir übrig bliebe,
wenn ich loslassen würde, was nicht zu mir gehört.
Loslassen
gehört zum fair play, klammern ist zu recht in fast allen
Sportarten verboten. Aber wie oft klammern sich Menschen an Menschen,
indem sie sie mit Liebe zuschütten oder durch Eifersucht an sich
fesseln. Das Aufrechterhalten einer Beziehung nur der Kinder wegen
kommt genauso häufig vor wie die Begründung: ich wollte
ihm/ihr nicht weh tuen.
Da ist die
Freiheit, zu einer Beziehung ja sagen zu können, längst
geopfert worden, vor die Hunde gegangen. Aber Liebe ohne Freiheit ist
so widersinnig wie Kopf ohne Hals. Es gibt nicht das eine ohne das
andere. Wo einer fürchtet, die Ehe könne zum Käfig
werden, sollte er sich auf das Wagnis gar nicht erst einlassen.
Viele
Versuche, los zu lassen enden in furchtbarer Enttäuschung. Der
andere kommt entweder gar nicht oder unerwartet verändert
zurück. Wenn ich dem anderen gleich mit auf den Weg gebe: geh
aber ja nicht fremd, komme aber sofort wieder nach Hause, dann darf
ich mich nicht wundern,
wenn der
andere ausprobieren will: was geschieht denn, wenn ich es doch tue.
Noch war da keinerlei Absicht, mich zu verlassen. Meine angemessene
oder unangemessene Reaktion stellt die Weichen für die
gemeinsame Zukunft.
Mehr und
mehr denke ich, es ist ein sehr großer Unterschied, ob ich
loslassen muss oder ob ich loslassen will. Durch Tod, erzwungenen
Umzug oder Wechsel des Mileus durch Hartz IV werde ich zum Loslassen
gezwungen und diesen Zwängen kann ich mich nicht entziehen,
solange ich berufstätig bin.