Blickwinkel Rollstuhl
Blickwinkel
Rollstuhl
A
wheelchair as my point of view
Ansichten
und Einsichten eines Rollstuhlfahrers
Als
Rollstuhlfahrer bin ich der Erde näher gekommen, habe den Boden
ganz nahe, wortwörtlich mit den Händen zu greifen. Nicht
von Anfang an, es dauerte einige Monate, bis ich wieder so beweglich
war, eine Zeitung vom Boden aufzuheben.
Neulich
stand ein Grundschüler, 4. Klasse hinter mir, legte seinen Arm
auf meine Schulter:“ Na Alter!“ Meine Augen in Richtung
der Stimme gewandt, wirkte er einen Kopf größer als ich.
Seine dunkle Haut und seine schwarzbraunen Augen ließen ihn
etwas fremd wirken, doch als er ganz offen und freundlich sagte. Ganz
schön beschissen, so ein Leben im Rollstuhl“, war er mir
sehr sympathisch. Manchmal tut es gut, wenn nicht nur meine Frau
gefragt wird, wie sie mit der Belastung fertig wird, dass ich im
Rollstuhl sitze. Hin und wieder sind Menschen auch daran
interessiert, wie es mir geht. Die meisten davon fragen auch dann
meine Frau und nicht mich.
Heute
Mittag auf dem Weg zur Krankengymnastik rolle ich an einer Pinwand
vorbei und las den Satz; „Es gibt Zauberer. Sie zaubern die
Tränen aus deinem Gesicht.“ Sie schaffen es, Bilder der
Erinnerung zu vergegenwärtigen:
Nichts
Schöneres unter der Sonne als
Auf
einer blütenbunten Sommerwiese
Barfuss
durch warmen Regen zu gehen.
Das
sind die schönen Tage, die die nasskalten erträglicher
machen, an denen der Himmel aussieht wie ein benutzter Aufnehmer.
Wieder
zuhause. Durst und Appetit auf irgendwas. Ein Glas Mineralwasser und
einen Blick in den Kühlschrank.
Von
den Joghurtbechern im zweiten Fach sehe ich nur den Boden. An alles
auf der dritten Ebene komme ich gut dran, da stehen Rollmöpse,
eingelegte Oliven und Harzer. Darauf habe ich aber jetzt keinen
Appetit.
Während
ich versuche zu überlegen, klingt es gleichzeitig an der Tür
und im Telefon. Der Hund macht sofort ein nervtötendes Geschrei.
An Telefonieren ist dabei nicht zu denken, also erst an die Tür.
Da steht Ginas Lieblingsfeind, der Paketbriefträger.
Gar
nicht so einfach, vom Rollstuhl aus das Tier zu bändigen und
trotzdem die Tür soweit aufzumachen, dass das Packet durchpasst
und ich den Empfang bestätigen kann. Das Telefon klingelt immer
noch. Am anderen Ende ist meine Frau, die mir sagt, dass sie nach dem
Dienst noch einkaufen fährt. Vor dem Auflegen sagt sie noch: du
hörst dich an, als hättest du Stress gehabt.
Den
„Führerschein“ im Rollstuhl schieben habe ich schon
vor einigen Jahren in Norwegen gemacht, doch die Erfahrung, selber im
Rollstuhl zu sitzen, war völlig neu für mich. Allein der
Blickwinkel aus dem Rollstuhl macht mich klein, abhängig und
hilfsbedürftig.
Sehr
angenehm empfinde ich die Beobachtung, dass keiner ungefragt hilft
und auch keiner beleidigt ist, wenn ich sage: nein Danke, das schaffe
ich selbst. Überhaupt: ich bin stolz auf die kleinen
Fortschritte und Fähigkeiten, die sich inzwischen eingestellt
haben. Wenn die Schwester vom Pflegedienst hin und wieder feststellt:
toll, das können sie ja jetzt auch selber, dann ist das wie
Balsam für die Seele, wie die Seele baumeln lassen in einer
Wellness Oase.
Als
Frührentner im Rollstuhl habe ich viel Zeit, mir über alles
Mögliche Gedanken zu machen. Dass man durch zu viel denken am
Schlaganfall stirbt, ist eine böswillige Erfindung derer, die
ihr Hirn am liebsten ungebraucht zurückgeben würden. Ist
Denken nicht Flucht in die Untätigkeit, Schmarotzertum auf
Kosten der Handarbeiter. Die Gedanken sind frei, sagte er, um sich
aus der Verantwortung zu stehlen.
Gedanken
können ins Absurde, ins Leere, in eine Sackgasse führen.
Wie enttäuschend eine solche Erfahrung ist, hängt unter
anderem davon ab, wie viel Zeit und Interesse ich in diese Gedanken
investiert habe.
Für
den Betroffenen ist es nur ein schwacher Trost, sich nicht tödlich
verrannt zu haben.
Ich
hab doch schon immer gesagt. Denken ist tödlich. Ich bin zum
Malochen geboren, das Denken überlass ich denen, die mehr
Einkommen haben als ich.
Einwände,
Bedenken, Widerspruch aus Angst und Enttäuschung, einer Mischung
aus Erfahrung und Vorurteil. Vorurteil ist aber auch die Behauptung,
jeder halbwegs vernünftige Mensch müsse sich über Gott
und die Welt, über Politik und Bratkartoffeln Gedanken machen.
Das ist nichts anderes als die Arroganz derer, die für ihr
Denken bezahlt werden.
Denken
kann eine erfrischend fröhliche Beschäftigung sein, auch
wenn es um sehr ernst Themen geht wie:
Luthers
Beitrag zum Individualismus
Wer
hat das Recht, von mir Verantwortung zu fordern?
Kokosfett
oder Schweineschmalz für die Bratkartoffen, ist das denn
wichtig?
Geborgenheit
und Nähe zu erfahren, eine Aufgabe zu haben und jemanden, der
auf mich wartet, ist das wirklich nur romantische Sentimentalität?
Bei
all diesen Gedanken und Überlegungen komme ich zu der Einsicht:
Frührentner und Rollstuhlfahrer zu sein ist nicht nur ein
individuelles Schicksal, sondern ein gesamtgesellschaftliches
Problem. Es geht nicht nur am die gesetzlich garantierte
Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude und Einrichtungen,
sondern auch um die Nutzbarkeit und Sicherheit öffentlicher
Verkehrsräume sowie den Zugang zu Verkaufsräumen und
Dienstleistungen.
Der
Verweis auf die behindertengerechten Einrichtungen des Diakonischen
Werkes entlastet die Kirchengemeinde nicht von der Pflicht, selber
für einen behindertengerechten Zugang zu den Gottesdienst- und
Gemeinderäumen zu sorgen. Berater in solchen Fragen sind die
zuständigen Bau- und Denkmalämter. Für andere
Konfessionen und Religionen gilt Entsprechendes.
Meine
erste Erfahrung als Rollstuhlbenutzer war, dass mein Krankenkasse ein
gut 250 km von meinem Wohnort entferntes Sanitätshaus mit der
Lieferung meines Rollstuhls beauftragte. Welche Logik dahinter
verborgen war, wurde keinem klar. Erst zuhause wurde ich
scheibchenweise darauf hingewiesen, welche Hilfen mir zustehen und
welche Eingliederungsmöglichkeit im nähern Umkreis
angeboten werden. Wenn gesetzlich vorgeschriebene Angebote nicht
vorhanden waren, wurde regelmäßig auf die katastrophale
Finanzlage verwiesen. Dabei geht es oft wortwörtlich um die
Schüppe Sand, die auf dem Weg nach Hause mitgenommen wird, um
eine abgesenkte Platte auf dem Gehweg wieder bündig zu machen.