Tod, wo ist dein Stachel; Hölle, wo ist dein Sieg.
Tod, wo ist dein
Stachel; Hölle, wo ist dein Sieg.
1. Kor 15,55
Tod, tief sitzt
dein Stachel,
Hölle,
schmerzhaft dein Sieg.
Trauer
ausgetrocknet
langsam brennt
Verlust
Erinnerung
vergegenwärtigt
vielfaches
Sterben, verloren
Nähe,
Hoffnung und Liebe
einzig geblieben
bestaunter Funke
Leben
Lieber Dino,
einer meiner
frühesten Erinnerungen an dich ist mit dem Auwald bei
Rheinhausen verbunden. Du wolltest oder konntest dich nicht
verstecken, vielleicht aus Angst, daß dich keiner suchen würde.
Die ersten beiden Jahre deines Lebens steckten dir in den Knochen und
prägten dein ganzes kurzes Leben. Deine Weigerung war ähnlich
wie bei den Ferienspielen mit Kindern aus einer Obdachlosensiedlung,
die beim „Blindekuhspielen“ wie angewurzelt stehen
blieben und riefen „Hier bin ich“, um nur ja von dem
Suchenden gefunden zu werden.
Alles hast du
genießen können, den ersten Schnee, die ersten
Frühlingsblumen, die ersten warmen Sonnentage. Ich konnte nicht
nein sagen, wenn du mit deinen schwarzen Haaren und deinen
Schokoladenplätzchenaugen vor mir standst und sagtest : „Ich
kann nicht mehr“. Dann habe ich dich die Berge hinauf getragen,
im wörtlichen und übertragenen Sinn, bin mit dir Seilbahn
gefahren, damit du deine Freude hattest.
Wir haben für
dich gesorgt, haben uns Sorgen gemacht, wenn du traurig oder krank
warst. Ja, mehr als Sorge, Vorwürfe haben wir uns gemacht, als
hätten wir es verhindern müssen oder können, daß
es dir mal nicht so gut ging. Wir haben uns über dein Lachen
gefreut, auch wenn es für uns teuer wurde.
Du hast als Kind
und auch später noch ganz im Jetzt gelebt. Du hast den
Augenblick genossen. Am Urlaubsort hast du immer schnell deinen
besten Freund gefunden, doch schon am Tag der Abreise war von der
dicksten Freundschaft nichts mehr übrig. Warum auch, denke ich
heute, ein Wiedersehen war mehr als unwahrscheinlich. Damals hat es
mich geärgert, sah ich darin Gedankenlosigkeit und
Gleichgültigkeit, ohne zu bedenken, daß du mit solchen
Gedanken nichts anfangen konntest in einem Alter, in dem es für
Kinder noch keine Geschichte gibt.
Wir hätten
von dir lernen können, wie sich ohne wenn und aber das Leben als
Fest gestalten läßt. Du hättest uns aus dem Käfig
befreien können, den wir um uns aus tausenderlei Rücksichtnahmen
und Bedenken gebaut hatten.
Den Umzug von
Wiesental nach Werth, da warst du knapp vier Jahre alt, hast du,
soweit das für uns erkennbar war, genossen. Schnell kam es zu
Freundschaften, die mehr waren als flüchtige Begegnung, die zum
Teil noch hielten, als wir nicht mehr in Werth wohnten. Spätestens
in der Grundschule merktest du aber auch, daß es seine
Nachteile hat, Sohn des Ortspfarrers zu sein. Du hast auf deine Art
versucht, das Beste daraus zu machen. Daß du dabei gegen
Gewohnheiten des Ortes verstoßen und mir Schwierigkeiten
gemacht hattest, konntest du nicht ahnen. Damals war ich furchtbar
sauer auf dich, ohne es dir unmißverständlich zu sagen.
Auf die Geburt
deines Bruders, du wurdest in dem Jahr fünf Jahre alt, hast du
nicht wie befürchtet mit Eifersucht reagiert. Du warst herzlich,
liebevoll und fürsorglich zu ihm. Einen Tag vor deinem siebten
Geburtstag wurde deine Schwester geboren. Zu ihr warst du , wenn das
überhaupt geht, noch fürsorglicher.
Ihr gegenüber
zeigte sich dein Sinn für Gerechtigkeit, der mit den Jahren
immer deutlicher wurde. Du standst immer auf der Seite der
Schwächeren. Ich denke manchmal, es ging so weit, daß du
dich aus Solidarität mit den Schwachen selbst zu einem Schwachen
ge-macht hast; während der Schulzeit hattest du jedenfalls große
Sorge, von irgend jemand Streber genannt zu werden.
Du warst
neugierig, Geduld war dir etwas Fürchterliches. Was du wolltest,
wolltest du sofort oder gar nicht.
Das andere
Auffällige war deine Angst vor Nähe, zu großer Nähe,
die dich zu irgendwas verpflichtet hätte. Doch vor dir stand in
absehbarer Zukunft das Ende der Betreuung und das Ende der Lehre. Vor
dir standen eine Menge unvermeidbarer, verbindlicher Entscheidungen.
Doch das Schlimmste war wohl, daß du regelrecht zerrissen warst
zwischen uns, Oma Martha und deiner leiblichen Mutter. Außerdem
konntest du dich nicht aus dem Einfluß der Leute befreien, die
jenseits der Legalität mit Drogen, Zigaretten und Autos zu tun
hatten.
Ich erinnere mich
immer wieder an zwei Sätze von dir: „Schade, daß der
Konfirmandenunterricht nichts gebracht hat.“ „Dich hat
die Kirche ja auch ganz schön beschissen.“ Ich höre
in diesen Sätzen enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen,
eine Sehnsucht nach Orientierung und Glaubwürdigkeit, oder -
wenn du das lieber hörst - nach Gerechtigkeit. Vielleicht sind
diese Sätze so haften geblieben, weil sie mich selbst betreffen
und infrage stellen. Was hat der Unterricht den von mir Konfirmierten
gebracht? Was habe ich ihnen - wie man so schön sagt - mit auf
den Weg geben können? Wie hat es auf dich gewirkt, daß ich
im Beruf gescheitert bin, einem Beruf, der mir oft wichtiger war als
meine Familie? Ob du nicht manchmal gedacht hast: das hat er davon,
sich für andere aufopfern,die gar nicht daran denken, ihm dafür
zu danken, und darüber vergisst er völlig, das eigene Leben
zu leben. So jedenfalls sehe ich selbst es heute manchmal. Oft aber
frage ich mich, ob ein erfolgreicher Vater dir mehr Mut zum Leben in
dieser Wirklichkeit gemacht hätte. War ich dir eher eine Last,
eine unbrauchbare Orientierung, weil ich viel zu viel Bedenken und
begründete Ein-
wände hatte,
um spontan und unbekümmert, um sorglos- wie es sich für
einen Glaubenden gehört – leben zu können.
Vor gut einem
Jahr kam mir nach einem Gespräch mit einer Psychologin dieser
Gedanke:
Vorauskasse
Du wolltest
unbeschwert leben
und gingst in den
Tod.
So nahmst du dir
das Leben,
das du noch nicht
hattest.
Deine leibliche
Mutter hat dich in deinen letzten Monaten materiell überfüttert,
deine Oma hat sich als die Einzige dargestellt, die Verständnis
für dich hat. Und wir haben dir nicht vorleben können, wie
man in dieser Welt als anständiger (gerechter) Mensch Erfolg und
Freude am Leben haben kann.
Heute stehst du
vor mir in meinen Gedanken, stellvertretend für all die
Gestorbenen aus meiner Nähe, stellvertretend für die, die
nichtvom Leben hatten, stellvertretend für die Schwachen,
Gescheiterten und Geschundenen. Dein Tod ist wie eine offene Wunde,
dochzugleich fangen die alten Narben an zu schmerzen. Scheinbarlängst
vergessene Verluste und Entbehrungen vergegenwärtigen sich. Wenn
die Nebel sich lichten, werden sie erkennbar: die zu früh
Gegangenen, die Verratenen und auch die von mir Enttäuschten und
Getäuschten. Und du, mein Sohn, führst sie an, führst
sie mir vor. Ich erlebe mich staunend und sprachlos. Wie kann das
krumme Holz denn dabei aufrecht gehen lernen?
Unterscheiden
soll ich lernen
die Ursachen
meiner Trauer
und meiner
Enttäuschungen
Doch immer noch
und wieder
scheint Schmerz
unermeßlich
jetzt nichts zu
finden
was halbwegs
erträglich
Alles erinnert
Tod
Verlust Schuldig werden
Wenn wieder
anfängt
das bei Sinnen
sein
kann ich
wahrnehmen
fast ohne
Schmerz
kurzfristige
Unterbrechung
des Regens
Die Fähre
kam eher als erwartet
das Wetter war
besser als befürchtet
nur kämpfen
wollte ich nicht
mein
Versprechen halten zu können
Dich zu
besuchen auf der Heimfahrt
Keiner hat
ahnen können
die Folgen
meiner Weigerung
Keine Chance
hast Du mir gelassen
Versäumtes
beizeiten nachzuholen
Erst nach
meinem Ende
werde ich
wissen
was Du dachtest
über mich
bevor Du dir
das Leben nahmst
das du noch
nicht hattest
Vielleicht
werde ich schon früher
gehören zu
den Wissenden
Vielleicht
flüsterst du Gott
dein Geheimnis
ins Ohr
und seine Boten
machen sich auf
setzen den Fuß
auf die Wolken
und kommen an
finden mich
wartend
4. Januar 1999